Der neue TikTok-Report der Bildungsstätte Anne Frank, Jena, analysiert Trends, Strategien und Ästhetiken in diesem Medienkosmos und gibt Hinweise zur öffentlichen Debatte wie zur medienpädagogischen Intervention. Hier der Beginn des Reports, der im Open Access zugänglich ist (siehe Link am Ende des Auszuges).
TIKTOK NICHT VERTEUFELN, ABER ERNSTNEHMEN
Von Dr. Deborah Schnabel
Mai 2024. Eine Gruppe gut situierter junger Weißer feiert in einem Sylter Club. Zur Melodie von „L‘amour toujours“ von Gigi D‘Agostino singen sie die rassistische Neonazi-Parole „Deutschland den Deutschen, Ausländer raus“. In den Tanzbewegun gen deuten sie Hitlergruß und -bärtchen an. Das Video der anscheinend völlig unbesorgt Feiernden löst einen Sturm der Entrüstung aus – der Club er teilt Hausverbote, die Polizei ermittelt. Schon Ende 2023 gab es ähnliche Szenen bei einem Volksfest in Meckelnburg-Vorpommern. Woher kommt die Schamlosigkeit, auch die Sorglosigkeit, vor laufen der Kamera diese Slogans zu brüllen? Für Beob achter*innen, die sich nicht auf TikTok bewegen, kommen solche Szenen quasi aus dem Nichts. Wer jedoch auf TikTok unterwegs ist, weiß: Videos, auf denen die neue rassistische Textzeile auf D‘Agos tinos Lied gesungen wird, sind ein Trend, auf den auch AfD-Politiker*innen aufspringen (s. S. 38). Das Lied selbst ist zum Erkennungszeichen rechter Gruppen auf der Videoplattform geworden, die zum Hauptmedium der Generation Z avanciert ist. Währenddessen erschüttern die Wahlergebnisse der AfD die politische Landschaft: 18,4 Prozent in Hessen, 14,6 Prozent in Bayern bei den Land tagswahlen im Jahr 2023. Besonders alarmierend ist ihr Erfolg bei den Erstwähler*innen, wo sie zur stärksten Kraft aufstieg. Die Reaktionen von Medien und der Öffentlichkeit sind geprägt von Schock und dem Bedürfnis nach Erklärungen. Eine im April 2024 veröffentlichte Studie mit dem Titel „Jugend in Deutschland 2024“ offenbart: Das Potenzial der AfD unter den Erstwählerinnen ist aktuell noch grö ßer. 22 Prozent sind bereit, bei der nächsten Bun destagswahl ihre Stimme der Partei zu geben. Vor zwei Jahren waren es noch neun Prozent. In Politik und Zivilgesellschaft überwiegt die Ratlosigkeit in Bezug auf die Gründe. Die Autor*innen der oben genannten Studie führen die hohen Zustimmungs werte für eine in weiten Teilen rechtsextreme Partei u.a. auf eine tiefe Verunsicherung junger Menschen zurück, ausgelöst durch eine Vielzahl von Krisen. Mit Sorge blicken viele auch auf die Aktivitäten rechtsextremer Akteure in den Sozialen Medien – und hier wiederum auf TikTok.